Zuweilen tauchen wir in den Redefluss
Zu Anna Zepnicks Band »rabensingen«
Aus dem Nachwort von Jayne-Ann Igel
Anna Zepnick, deren literarisches Debüt wir mit dem vorliegenden Band begrüßen können, hat sich in einem anderen künstlerischen Metier längst einen Namen gemacht, auf musikalischem Gebiet als Konzertpianistin und Begleiterin bei Liederabenden. Sie hatte jedoch schon früh in der Kindheit ein Gespür, eine Vorliebe für Sprache entwickelt, in der Konfrontation mit einem Deutsch, wie es in biblischen Texten zu finden ist, und mit Reimen und Märchen. Sie verfügte mit etwa acht Jahren über eine Sensibilität für Struktur und Rhythmus der Sprache, begann später Tagebuch und erste Gedichte zu schreiben, von denen eins sogar in einer Tageszeitung veröffentlicht wurde.
Doch im Alter von zwanzig Jahren brach diese Beschäftigung erst einmal ab. Sie studierte sieben Jahre Klavier. In dieser Zeit schrieb sie wohl Briefe, führte weiter Tagebuch, aber lyrische Texte entstanden nicht mehr. Ihr Lebensmittelpunkt wurde fortan von Musik bestimmt, mit Konzert- und Liederabenden, weiteren musikalisch-künstlerischen Projekten sowie einem Lehrauftrag an der Musikhochschule.
Vor allem über die Liederabende erhielt Anna Zepnick wieder Zugang zur Dichtung, und Anfang 2012 begann sie erneut, auch Gedichte zu schreiben. Ihr langes Mitwirken als Schauspielmusikerin, etwa an einem Kreisler-Programm und einem umfangreichen Repertoire zur deutschen Romantik, vertiefte die Auseinandersetzung mit literarischen Texten.
Erste Arbeiten von Anna Zepnick erschienen in verschiedenen literarischen Zeitschriften. 2020 nahm sie gemeinsam mit Schauspielern ein Hörbuch auf, die ihre Gedichte einsprachen, flankiert von Improvisationen auf dem Klavier. Zwei Jahre später beteiligte sie sich an einem Lyrik-Workshop beim 1. Poesiefestival Vollradisroda. Im Rahmen eines vom Sächsischen Literaturrat initiierten Mentoring-Programms für Lyrik erfuhr sie durch den Dresdner Dichter Volker Sielaff Unterstützung in ihrer literarischen Arbeit. Die in
rabensingen versammelten Gedichte stammen aus den letzten zehn Jahren.
In ihren Texten setzt sich Anna Zepnick mit Fragen nach Herkunft, der Vergangenheit und den Haltungen der Großeltern auseinander, das erste Kapitel ist geprägt davon. Der Topos von der Großen Mutter taucht gleich in der ersten Zeile des Gedichts
an die großmutter auf, allerdings in seiner Negierung. In der Erkundung des Vorlebens der Großeltern und Eltern, ihres Verhältnisses zu ihnen, spürt sie den Einflüssen auf das eigene Leben nach. Hier entfalten sich Struktur, Klang und Rhythmus des Gedichts, im Wechsel von Bildern und kritischer Reflexion innerhalb jeder einzelnen Strophe, wie es in der Folge dann auch bei anderen Gedichten zu beobachten ist.
Die Gedichte zeichnen sich durch eine Wahrnehmungsintensität aus, und um diese in poetische Bilder zu übersetzen, in einen Sprachraum hinein, reichen der Autorin oft wenige Verse, eine knappe, aber genau akzentuierte Diktion. In den Texten spiegelt sich die Abfolge eines Lebens wider, mit Kindheit, Schule, Familie, erfahrener Natur. Letzteres beispielsweise in der Betrachtung eines bemoosten Steins mit eingeritzten Zeichen, die sich der Deutung entziehen (
im wald). Wenn von Naturdingen die Rede ist, schwingt immer das Bewusstsein für die eigene Endlichkeit mit. Vögel, vor allem Raben, tauchen in den Texten wiederholt auf, als Muster, Metapher. Als Wesen, die sich mit ihrer Umgebung ins Benehmen setzen, in einer Selbstverständlichkeit, die Menschen eher abgeht. Wir beobachten sie, genau oder auch nur beiläufig – was empfinden wir? In
des winters klarheit fragt sie nach dem Namen der Wipfel im Winter, nach dem des Rasens, als gälte es, in einem dichterischen Verfahren die jahreszeitlichen Wandlungen namhaft zu machen, sie nicht nur zu beschreiben.
Wir werden im Verlauf der Kapitel Zeugen eines Generationenenwechsels, jetzt ist es das dichterische Ich, das den Ranzen für das eigene Kind zur Schule trägt, der auch eine andere Farbe hat. In kurzen, ab und an sentenzartig wirkenden Gedichten scheint die Thematik des allmählichen Alterns auf, ohne Bitternis. Vielmehr vermittelt sich der Eindruck, an einer Expedition in scheinbar Vertrautes und dennoch Unbekanntes teilzuhaben, in der Beobachtung eigener Veränderungen, der des Lebenspartners. Das Wir in diesen Versen bildet den Sprechgrund, hier spielt auch das lustvolle Sich-Öffnen für ein Gegenüber eine Rolle, was in der Gegenwartsliteratur nicht so oft vorkommt. Texte dieser Art stellen oft eine Gratwanderung dar, doch die Autorin vermag sie zu meistern (
löwin). Auch, weil die Lust am Wortspiel nicht zu kurz kommt. Diese Annäherung an das Phänomen des eigenen Alterns vollzieht sich nicht ohne Selbstironie (
rauch der fackeln). Die im Band enthaltenen Liebesgedichte wirken liedhaft, dialogisch. Vom Charakter her sind sie durchaus Vortrags- und Sprechtexte.
Selbst dort, wo Anna Zepnick mit tradierten Bildern operiert, entsteht etwas Neues, es gibt Texte, die surreal erscheinen, Allegorien finden Verwendung. Redensarten wie die vom Redefluss werden wörtlich resp. sinnlich genommen (
zuweilen tauchen wir in den redefluss). Sie lässt gelegentlich christliche Motive einfließen, verleiht ihnen eine andere Aussage, etwa jenem vom Baum der Erkenntnis, den sie besteigt, ohne verführt zu werden.
Man kann, so man Anna Zepnicks Verse zu charakterisieren versucht, durchaus auf Begrifflichkeiten aus der Musik zurückgreifen, etwa hinsichtlich der Liedhaftigkeit einzelner Texte, von denen einige sogar mit
Lied übertitelt sind, den Wiederholungen von Versteilen, den Reprisen. Ihre Arbeiten zeichnet eine Formenvielfalt aus, die für ihre dezidiert literarische Orientierung und ihren musikalischen Erfahrungsschatz gleichermaßen steht.