Foto: Jörn Hausner
Bertram Reinecke, geboren 1974 in Mecklenburg, lebt in Leipzig. Er verfasste bisher fünf Lyrikbände und zuletzt den Prosaband Geschlossene Vorgänge. Sein Band Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst wurde auf die Liste der Gedichtbücher des Jahres 2013 gekürt.
Darüber hinaus erschienen Essays, Übersetzungen, Hörkunstarbeiten und Libretti für Werke der zeitgenössischen Musik. Er war mehrfach Gastdozent am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und betreibt den Verlag Reinecke & Voß.
Im Februar 2024 erschien im poetenladen Verlag sein Gedichtband Daphne, ich bin wütend (Reihe Neue Lyrik).
»Reinecke schreibt intelligent und subtil.« Ann Cotten
»Der Dichter zeigt uns virtuos die unausgeschöpften Möglichkeiten der Dichtkunst, auch der vermeintlich vergangenen, gerade an dem Punkt, an dem sich die heutige Lyrik oft an ihrer Verwechselbarkeit reibt.« Dominik Dombrowski
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Bertram Reinecke
Daphne, ich bin wütend
Reihe Neue Lyrik – Band 27
Herausgegeben von Jayne-Ann
Igel, Jan Kuhlbrodt, Kulturstiftung.
des Freistaates Sachsen
Hardcover, ca.164 S., 19,80 Euro
ISBN 978-3-948305-25-3
poetenladen, 2024
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Mit Daphne, ich bin wütend legt Bertram Reinecke einen Gedichtband vor, der vieles bündelt, was Literatur oder Kunst überhaupt ausmacht. Er betrachtet die Erfahrungen der literarischen Tradition als ein Gemeingut, das Ressourcen bereitstellt und, sei es im Privaten oder sei es in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, einen utopischen Horizont öffnen kann.
Jenseits von Nostalgie bleibt sein oft überraschender, mitunter humorvoller Zugriff auf Vorgefundenes nicht bei »Bewährtem« stehen, sondern er experimentiert mit Sprache und erkundet neue poetische Verfahren.
Der Band entfaltet damit einen Fächer unterschiedlicher Textformen, der vom leichthin gesetzten freien Vers und dem melancholischen Bonmot über klassische Baumuster wie Sonett und Pantum bis zu strengen Montagen, Mutationsformen und Lautspielen reicht.
Im abschließenden Essay legt der Band seine Arbeitsweise frei: Jedes Gedicht laboriert an seiner eigenen Sprachnot –
Zur Poetik und dem Gespräch darüber.
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Nachtwachen III
Licht, ich lag hinter den scheiben, sah stirnen
Weise – die großen hungernden augen wie
Im roten meer versackt, ein lichtrest schwer –
Ich zähle drei monde, ene mene mu drei
Auf grund war da ein grund entlang leuchtender strände
Licht, ich lag hinter den scheiben, sah stirnen
Die meine entzweiung begingen, geschäftige finger
Im roten meer versackt, ein lichtrest, schwer
Trainierter begriff während ich schlief und ich schlief
Auf grund war da ein grund entlang leuchtender strände
Kriege in urwassern, wellennetz, konsonanten
Die meine entzweiung begingen, geschäftige finger
Mich zu halten, mich zu entbinden: vom fall
Trainierter begriff, während ich schlief und ich schlief
Das einfache leben, einfach zu bett gebracht:
Kriege in urwassern, wellennetz, konsonanten
Das spiel der formen, sprengsatz, in deinen händen
Mich zu halten, mich zu entbinden vom fall
Kann sich nicht dahin bringen in ohnmacht zu sinken
Das einfache leben, einfach zu bett gebracht
Kann sich nicht dahin bringen in ohnmacht zu sinken
Weise die großen hungernden augen wie
Das spiel der formen, sprengsatz in deinen händen
Ich zähle drei monde, ene mene mu drei
Aus: Daphne, ich bin wütend
Essay
Jedes Gedicht laboriert an seiner eigenen Sprachnot –
Zur Poetik und dem Gespräch darüber 1
Auszug
Ein Erschrecken
Das Montieren von neuen Texten aus unveränderten Zeilen anderer Werke bildet das Herzstück meiner Arbeit. Was es mit meinem Lesen und mir als einem Menschen macht, Stunde um Stunde fremde Verszeilen immer von neuem zu durchlaufen, lässt sich kaum in seinem Ausmaß von innen her erkennen oder gar ausdrücken. Zumindest beeinflussen meine Montageroutinen die Art und Weise, wie bei mir Texte ohne fremde Materialvorlagen entstehen. Andeuten lässt sich, dass sich ein Gefühl für Räume des Sagbaren und Atmosphären in der Dichtung, für Ersetzbarkeiten und etwas, das man poetische Synonymie nennen könnte, in besonderer Weise ausprägt, wenn man wochen-, manchmal monatelang Materialcorpora nach geeigneten Zeilen für Montagen durchforstet. Dazu ergibt sich eine besondere Achtsamkeit für grammatische Anschlüsse und Wahrscheinlichkeiten der Aufeinanderfolge.
Insofern diese Arbeit den ganzen Menschen ergreift, sehe ich mit staunendem Schrecken, wenn eine erhebliche Zahl von Leserinnen auch diejenigen meiner Montagen, die konkrete Situationen in vergleichsweise geläufigeren Bildern beschreiben, häufiger als unzugänglich bezeichnen.
Hinter Formen verstecken?
Zunächst meinte ich, dieses Unwohlsein eines nicht unerheblichen Teils von Leserinnen entstünde aus einem Verdacht, der gegenüber ungewöhnlichen Arbeitsweisen häufig ist (die dann gern als »experimentell« gelabelt werden): Hier wolle sich jemand hinter dem formalen Anspruch verstecken. Wer die Sache zu Ende denkt, muss feststellen, dass ein solcher Versuch stets zum Scheitern verurteilt wäre. Dies sei am Sonett als der vielleicht bekanntesten Form verdeutlicht: Jede Lyrikleserin hat mehr oder weniger explizite Vorstellungen davon, was es bedeutet, dass ein Sonett geglückt ist, und ermisst intuitiv das einzelne Exemplar daran. Welche Reime betrachtet man angesichts der Tradition als abgegriffen? Hält man es für eine Belebung oder eine Abweichung, wenn der Reim im zweiten Quartett wechselt oder die Syntax die Strophengrenze überspielt, bevorzugt man besonders reine Reime für diese Form oder »gerade heute nur noch« unreine? Sollte ein Sonett kein Wort wiederholen oder bietet sich die Form gerade für kunstvolles Insistieren an? Stützen die Inversionen den Gesamtinhalt oder ersieht man aus ihnen die Mühen der Formerfüllung? Korrespondiert diese Mühe eventuell mit einem inhaltlichen Detail des Textes, unterstützt die Form den Gedankengang oder widersetzt sich dieser Gedankengang der Form (und was wäre adäquat?) usw.
Jenseits der Erfüllung einer Form stellen sich alle Fragen nach Schönheit, Angemessenheit, Neuigkeitswert usw. neu und die Dichterin muss ihre subjektiven Entscheidungen nach den Maßgaben ihres Sprechapparates im ungesicherten Raum abwägen.2
Montagen, gerade solche strengen wie meine, mögen weniger verbreitet sein, die weniger geübte Lyrikleserin wird vielleicht ihre Intuitionen erst schärfen müssen, aber wie geläufig oder bemüht die grammatischen Anschlüsse laufen, oder wie viele Freiheiten sich der Text nimmt, von der gewohnten Syntax abzuweichen, wie wild oder geschmeidig diese Texte im Vergleich zu anderen Montagen und Gedichten oder dem Material, aus dem im fraglichen Text montiert wird, sind, zu all diesen Fragen kann die Leserin Stellung nehmen, denn hier liegt nichts versteckt.
Der Mythos des Potentiellen
Auch da, wo diese Montagen persönliche oder gar politische Aussagen relativ geradlinig transportierten, die Machweise also am ehesten in den Hintergrund trat, blieb vielerorts die Beklemmung meiner Leserinnen bestehen. Ein weiteres Problem scheint zu sein, dass mancher unterstellt: Dass sich in meinen Montagen geschmeidig ausdrücken lässt, was sich eben ausdrücken lässt, müsse doch ein Indiz dafür sein, dass all dies im verwendeten Ausgangsmaterial bereits ausgedrückt oder zumindest angelegt wäre.
Für bestimmte Formen meiner Arbeit mit Fremdtext, etwa meinen Texten zu Wörterbüchern, geht es zwar genau darum, durch Freistellung aufzuzeigen, was das Material enthält. Ganz von der Hand zu weisen ist die Frage nach dem Einfluss also nicht. Das ist aber eher ein Grenzfall. Dieser Einfluss wirkt sich ansonsten insgesamt weit indirekter aus, als offenbar unterstellt wird. Vor allem bestimmt er Inhalt und Aussagen der entstehenden Montagen nicht vorher. Auch welche Sprachfiguren die neuen Texte enthalten, wird nicht von ihm präjudiziert. Genau darum dauert das Montieren bei mir oft so lange, weil ich durch die Arbeit mit riesigen Materialcorpora von bis zu 90000 Einzelzeilen mich weitgehend freizumachen suche von diesem Einfluss. Ab einem bestimmten Moment wäre es ebenso überzeugend zu sagen, im Farbkasten eines Kiefer, Richter oder Rauch wären deren jeweiligen Bilder bereits irgendwie vollständig enthalten und eigentlich vollbrächte ihr Hersteller die eigentliche Kunstleistung, denn in der Tat könne ja der Kunstgeschichtler aus der Zusammensetzung der Farben auf die Entstehungsepoche des Bildes schließen. (Das Argument unterschätzt Fleiß, Routinen und persönliche Entäußerung des Erschaffens.)
Es gibt einen Wink von Jandl, der manchem im Kopf herumspuken mag: Wer Gedichte aus der Sprache von Gedichten mache, sei vielleicht eher zur Deutschlehrerin geschickt als zur Dichterin. Wer den einschlägigen Text konsultiert, stellt fest, dass es ihm hier um die Wiederverwendung geläufiger Gedichtsprache in eben derselben Geläufigkeit ging. Jandl wirbt für die Bedeutung dichterischer Verfremdung. Wo Sprache, wie im Falle dieser Montagen, durch die Einpassung in ganz andere grammatische Kontexte vollkommen umfunktioniert wird, wo es um die Erschließung ungeläufiger bis abseitiger Vokabulare geht (z.B. aus barocken Quellen heraus in die Gegenwart zu sprechen), dürfte diesem Ruf nach Verfremdung in vielfältiger Weise Genüge getan sein.
Konkret bemühe ich mich, Zeilen, die ungewöhnliche vollständige Bilder enthalten, zu meiden. Eher nutze ich einen Gemeinplatz wie: »Das Leben ist ein Spiel«, um selbst etwas zu erfinden, was diskutabel ist, als hätte ich es mir soeben ganz ohne Vorlage ausgedacht.3 Die Wahl der Ausgangstexte soll ihnen in der Regel also weder irgendeine Qualität zu- noch absprechen.4
Gewagte Anschlüsse, denen man jeweils im Einzelnen unterstellen könnte, sie wären unsinnig, gibt es bei mir in großer Zahl, sie sind eher die Regel als die Ausnahme: »unendlich sich verzweigendes«, apostrophiert Odile Endres in ihrem Text Buffalo ein neuronales Netz. Würde jemand hier behaupten, darin sei irgendwie bereits angelegt, dass es sich wie in meinem Text Leinenwurf auf Brandung bezieht: »verfehlendes brandungsspritzen / unendlich sich verzweigendes / tentakelt durch die luft«? (In der Quelle von Friederike Haerter »tentakeln« wiederum Haare.) Ein gewagtes Bild wie meines ist im Ton der drei Quellgedichte nicht vorbereitet. Will man hier wirklich sozusagen post hoc ergo propter hoc einwenden, dass die Zeile doch immerhin die Potenz gehabt haben müsste, dieses Bild zu ergeben?5
Diese Schwierigkeit wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass viele der von mir verwendeten Zeilen so wenig Elemente enthalten, dass in anderen Sprachen (die agglutinierenden bzw. fusionierenden) lediglich ein flektiertes Wort wäre, was im Deutschen meine Ausgangszeile ist: »Fremd in der Fremde gehen« oder »Du lass Dich nicht erschrecken«.6
Wer eine Potenz im Ausgangsmaterial für gegeben annimmt, auch wenn niemand diese Potenz je realisiert hätte, scheint ein essentialistisches Bild von Kunst zu haben.7 Wer sich die Wirkung eines Kunstwerkes aus den einzelnen Elementen nicht erklären kann, nimmt vielleicht an, dass das Kunsthafte fein verteilt, überall im ganzen Werk verborgen wäre und sich so in meine Montagen einschliche? Etwa folgendermaßen: Die Vase oder die Sonnenblumen sind es nicht, aber dass sie so van Gogh-isch sind. (Als könne man seine Pinselführung nicht nachahmen). Eine problematische Vorstellung ist das schon beim Bild.8 Noch problematischer ist sie bei Wörtern, die wie Legosteine verbaut werden, denen weder ein individueller Pinselstrich noch eine persönliche Intonation eingeschrieben ist, sobald man sie versetzt.
Wie misslich es ist, diese Potenz sich als sozusagen vom Ausgangsmaterial beinhaltet vorzustellen, zeigt auch der Umstand, dass ich nachträglich meinen Ausgangskorpus erweitern kann und damit zahlreiche neue Möglichkeiten gewinne, einer fraglichen Zeile durch Rekontextualisierung einen neuen Sinn abzugewinnen.9
Oft würde bei homogeneren Texten schon ein Blick auf die Heterogenität der Quellen, bei einem eher offen rauen Gedicht ein Blick auf die Homogenität der Sprechweisen der Vorlagen zeigen, dass hier Sprache eher gewandelt als zitiert wird.10
Auch wenn im Einzelfall eine Vereinfachung dabei herauskommen kann, tauchen alle Zeilen in einem in der Regel für sie ungewohnten Kontext mit ungewöhnlich langen, teils gedoppelten, syntaktischen und metaphorischen Fügungen auf. Das ist ganz klar ein Merkmal meiner eigenen Poesie, auf das die Originale ebenso niemals gerechnet haben wie auf ihre neue semantische Umgebung. Hier ist außerdem ein Punkt, wo meine Montageroutinen auf meine »freie« Dichtung durchschlagen.11
...
1 Um in meiner ohnehin komplexen Syntax zusätzliche Rauigkeiten zu meiden, wird hier, wenn die Satzsubjekte Substantive sind, die sich auf Personen(-gruppen) beziehen, durchgängig die weibliche Form benutzt. Stellt ein Pronomen das Satzsubjekt, nutze ich die männliche Form, soweit sich eine weibliche Form nicht aus dem vorhergehenden Satz ergibt. Natürlich sind in beiden Fällen alle vernunftbegabten Wesen jeder Art gemeint.
2 Und selbst da, wo sie Regeln nennt, sind dies subjektiv-informelle Regeln, die nicht allgemeine Geltung für alle Sonette erheischen können, denn ein interessantes Sonett kann es auch immer jenseits gerade dieser Regeln geben.
3 »Das Leben ist ein Spiel / Weil es keiner ganz versteht, was soll das denn heißen?« moniert ein Kollege in einer Werkstatt: »Etwa ein Spiel, wo man die Regeln nicht kennt?« ... Vielleicht stehen wir auf dem Standpunkt, dass die Regeln, nach denen man es gewinnt, den Kern des Spielens ausmachen, besonders wenn wir philosophierend das »Wesen« des Spiels ergründen wollen? Vielleicht mögen auch Autisten solch einen Blick auf Spiele haben? Für andere mag der Kontext der – sozusagen – gerahmten Überraschung gerade den Witz des Spielens ausmachen? Wie auch immer, jener Kollege wird auch in der 2. Fügung der Zeile »Das Leben ist ein Spiel / Fremd in der Fremde gehen« nicht den in der ersten Zeile »angelegten« Sinn realisiert sehen, sondern er wird diese Paarung eher als sinnwidrig empfinden.
4 Eine gewisse Mindestqualität müssen sie allerdings aufweisen, damit mich das Material nicht durch Altbackenheit oder Gleichförmigkeit so anödet, dass eine langwierige Beschäftigung damit ausgeschlossen wird.
5 In einem trivialen Sinne ist das natürlich einzuräumen: Die drei Zeilen lassen sich grammatisch einigermaßen sauber ineinander fügen, aber welchen Sinn hätte es, in diesem trivialen Sinne auf so einer Potentialität zu beharren? Wäre irgendjemand anders als ich zu jenem Zeitpunkt auf den Gedanken gekommen, gerade diese drei Zeilen aus drei verschiedenen Gedichten aus unterschiedlichen Zeitschriftennummern aufeinander zu beziehen? Das Nachdenken über Potentialität scheint sich wohler im abstrakten Raum zu fühlen und weicht immer wieder dahin aus, als wolle es sich dort beruhigen. Ich möchte beim Konkreten bleiben: »Wie die Kunst-Feuerwerk man hält bey Nacht allein / ...// Des Nachtes scheinen auch muß dieser Augenschein.« Der Augen Feuer mag eine sprachlich naheliegende Findung sein, der Gedanke mag das Zeilenpaar neben seiner grammatischen Passigkeit einigermaßen eingängig erscheinen lassen. Hier passiert aber viel mehr: Die Augen werden erstens ausdrücklich zu Feuerwerken, also Silvesterraketen etc., (was zugleich eine Hyperbel ist), und zweitens zu Kunst-Feuerwerken. Traditionell hingegen verbindet man die Augen eher mit Natürlichkeit. Und dann geht es noch weiter: Bei genauer Lektüre des Textes »Geticht auf das nächtliche Bergen ...« stellt man fest, dass Augenschein hier wider Erwarten einen Schein meint, der in die Augen dringt (und nicht ein Merkmal einer Konstellation ist wie in »augenscheinlich« oder von den Augen strahlt, wie man es vom Feuer der Augen erwarten könnte), nämlich offenbar aus den Dingen, die die vom Gedicht adressierte »sie« für die Leier gemacht hat? In einer anderen Lesart vielleicht aber auch das Ergebnis der Inaugenscheinnahme jener Lieder? Interessant ist hier nun, dass in beiden Fällen »Augenschein« ein Pleonasmus wäre. (Denn ein Lichtschein ist ja ein solcher immer nur, als wir ihn mit dem Auge wahrnehmen können.)
Die pleonastische Qualität von »Augenschein« scheint mir im Ausgangskontext durch nichts vorbereitet oder nahegelegt zu werden, vielleicht möchte man sich jedoch darauf versteifen, dass diese Potenz bereits im Wort »Augenschein« steckt, indem es immerhin aus einem Duo zweier auf das Sehen bezogener Wörter besteht? Wer die Potenz für meine Fortsetzung auf diese Art für gegeben im Ausgangsmaterial annimmt, mag sich durch den Gedanken beunruhigen lassen, dass dann offenbar der Duden als das großartigste Werk der deutschen Literatur gelten sollte, da er schließlich, abgesehen von einzelnen Neologismen oder ausgestorbenen Wörtern, bereits die Potenz beinahe der gesamten deutschen Literatur in sich enthält.
6 Dies Beispiel zeigt auch, dass neuer Sinn bei mir nicht nur aus wachsender Komplexion gewonnen wird, sondern dass mitunter auch der umgekehrte Weg eingeschlagen wird. Ist Biermanns Original (aus »Du lass Dich nicht verhärten«) in eine anspruchsvolle Allegorie eingebunden, wird in meinem Text »Wiegenlied« ihr ursprünglicher Sinn dadurch unterlaufen, dass jeder mögliche symbolische Gehalt auf einem einfachen Reiz-Reaktionszusammenhang aufbauen muss: »Du lass Dich nicht erschrecken / wenn du die Raben hörst«.
7 Der französische Literaturkritiker und Epistemologe Gaston Bachelard untersucht ein solches Denken anhand der Geburtszeit der modernen Chemie: Die damaligen Gelehrten konnten sich nicht erklären, warum etwas brennt, also unterstellten sie, es müsse eine feine, den verbrennbaren Stoffen beigemischte Substanz geben, die diese Fähigkeit besitze, so unfassbar fein, dass sie niemand bisher einzeln hebe isolieren können. Sie nannten sie Phlogiston, Bachelad spricht vom Mythos der verborgenen Substanz. Ebenso nahmen sie an, solcherlei Substanzen bildeten auch die Ursache für den Magnetismus, für die Gärung etc. oder gingen davon aus, dass allen aus Wassertieren gewonnenen Brühen eine kühlende Heilwirkung innewohne oder dass im kolloidalen Gold die verborgene Substanz endlich nach außen gekehrt wäre und dass Gold mithin eigentlich substantiell rot sei.
8 Wenn man die Ausschnitte einzeln ansieht: Ist in einem gelben Fleck aus einem Blütenblatt auch schon das Genie des Malers anwesend? Bis zu welchem Schnipsel soll das Bild sich an jeder Stelle gewissermaßen selbst enthalten, wie ein Polyp, der in 100 Teile geteilt, sich aus jeder wieder selbst hervorbringt?
9 Soll man so sprechen: Die Potenz der Ausgangszeile beinhalte schon immer die Möglichkeiten, die durch alle künftig geschriebenen Zeilen ihr zuwachsen könnten, hat also schon heute einen potentiellen Sinn, der nach und nach über Generationen entschleiert wird? Oder soll ich lieber sagen: In dem Moment, wo eine neue Zeile irgendwo geschrieben wird (die grammatisch halbwegs zu ihr passt etc.), wächst der ursprünglichen Zeile durch geheimnisvolle Fernwirkung diese neue Potenz zu? Oder soll man so sagen: Durch die Wahl meines Korpus entscheide ich ja mit, welche Potenz so eine Zeile im Einzelnen hat? Oder ist die Rede von einer angelegten Potenz hier nicht mehr als eine an Hegel eingeübte Sprachfigur ohne rechten Sinn? (Oder allenfalls wohnt ihr lediglich der Sinn inne, ein diffuses Misstrauen gegen die Kunstleistung solcher Montagen zum Ausdruck zu bringen.)
10 Selbst die Lektüre des Registers allein ohne dessen Quellen kann bereits Hinweise geben. Leicht lässt sich feststellen, dass ich (abgesehen von den wenigen Arbeiten, die gezielt Sinnpotential der Vorlage vorstellen sollen) keine Zeilen benutze, die im Original bereits zusammengeordnet sind, nur ausnahmsweise einzelne, die zur selben Strophe gehören und nicht oft zwei Zeilen aus demselben Text in einer Montage. So lässt sich die Leistung der künstlerischen Entäußerung ermessen, die jenseits des Kompilierens dazu gehört, Montagen der hier versammelten Art herzustellen.
11 Das lässt sich nicht nur an meinen nicht montierten Sonetten sehen (das Sonett kommt mir entgegen, weil es einen solchen Langbau der Bilder bereits nahelegt), sondern auch an den gänzlich freien Texten (z.B. »Halbe Strecke« oder »Als wir die Namen wussten«)
Aus: Daphne, ich bin wütend
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