Michael Braun
Papagei und Pope
Fünf Fußnoten zur Ansicht der leuchtenden Wurzeln von unten
I
»Der Schriftsteller«, hat Ossip Mandelstam einmal notiert, »ist ein Gemisch aus Papagei und Pope.« Als Papagei ist er Stimmenimitator, Adept und Nachplapperer der großen Verse und Prunkzitate der poetischen Altvorderen, als Pope beansprucht er bis heute – auch wenn er ihn nur subkutan oder im Gewand der Ironie in seine Texte einschmuggelt – den alten Wahrheitsanspruch des poeta vates für sich. Auch die jungen Dichter des 21. Jahrhunderts sind – im emphatischen Sinne Mandelstams – »Plapperchen im wahrsten Sinne des Wortes«. Sie realisieren eine große Freiheit, wenn sie auf die Formen und Bestände der poetischen Tradition zugreifen und sie in eklektizistischen Operationen in neue aufregende Konstellationen versetzen. Sie sind gleichermaßen versiert in der Anverwandlung historischer Stilhaltungen (beispielsweise der Reime Francesco Petrarcas bei Sandra Burkhardt) wie der schnellen Zerstreutheitssprachen der sozialen Medien. Einer von ihnen, der in der Ukraine geborene und nach Stationen in Hildesheim und Leipzig jetzt in Frankfurt am Main lebende Yevgeniy Breyger, ein Mitherausgeber des vorliegenden Bandes, hat in einem poetologischen Statement beschrieben, wie sich die verschiedenen und oft auch entgegengesetzten Kräfte innerhalb eines Gedichts in Spannungszustände bringen lassen: »Zeilen, die wie unausgeglichene Gegengewichte innerhalb des Gedichts umherpendeln, magnetisch aufeinander einwirken und ein dynamisches Mobile hervorbringen – das lebendige, multilaterale, pulsierende Gedicht, dessen Verweise in alle Himmelsrichtungen deuten, aber im Inneren auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt hinauslaufen.« Und hier ist schon eine neue Kategorie für das Lyrische gesetzt, die erst in diesem Jahrzehnt Kontur gewonnen hat: das Gedicht als »dynamisches Mobile«.
Sie wünsche sich ihre Gedichte wie »Mobiles«, hat schon Daniela Seel in einer essayistischen Vignette ihres Bandes »was weisst du schon von prärie« (2015) notiert, eine bewegliche Form, »die vorstellungen freisetzt, statt durch zu viel beschreibung zu beschränken«. Nicht nur Daniela Seel, auch viele Autorinnen und Autoren dieser Anthologie favorisieren eine Poetik der Beweglichkeit und des »dynamischen Mobiles«, die wegführt von den traditionellen Formen (Sonett, Volksliedstrophe, Ghasel etc.) und stattdessen »neutrale« Formen erprobt, wie z.?B. das Gedicht im Blocksatz oder als freischwebende, unverbundene Zeile, die als poetischer Energieträger den lyrischen Prozess beflügelt. In sehr unterschiedlicher Weise arbeiten beispielsweise Ronya Othmann, Özlem Özgül Dündar oder Saskia Warzecha mit dem Blocksatz als formgebendem Element – immer aber ist es ein Verfahren, das Hierarchien zunächst einebnet, das disparate Vokabulare, Bildfolgen oder Motivketten aneinander reihen kann, um sie dann aber über bewusst gesetzte Zeilensprünge doch neu zu gliedern und poetisch zu organisieren. Aber noch immer, selbst in der ostentativen Ausstellung seines »multilateralen«, oft das Disparate schroff fügenden Gedichts, ist der Dichter eben nicht nur Papagei, sondern auch geheimnis-generierender Pope.
II
Was erzeugt das Gedicht als »dynamisches Mobile«? Hier kann man auf eine prägnante Versformel Ron Winklers zurückgreifen. In einem Winkler-Gedicht resümiert das lyrische Subjekt: »Ich / und das Andere ergeben eine schöne Wahnwitzkongruenz.« Die vorsätzliche Herstellung einer möglichst bizarren »Wahnwitzkongruenz« zwischen dem lyrischen Subjekt und der äußeren Wirklichkeit gehört auch zu den Merkmalen vieler Gedichte dieser Anthologie. So spaltet sich etwa das lyrische Ich in einigen Gedichten Rick Reuthers auf und verzweigt sich in unzählige Stellvertreterfiguren, dabei wird ausdauernd in der Wühlkiste der neuen Kommunikationsmedien und in Zufallsfunden im Internet gekramt. So entsteht ein Reigen von Ich-Projektionen, die in ihrer bizarren Zusammenfügung Verblüffungseffekte erzeugen, ohne auf ein Ziel zusteuern zu müssen. Was ist das für ein Ich, das uns in vielen Gedichten hier entgegentritt? Es ist ein nomadisierendes Subjekt, das sich als Kunstfigur in sozialen Netzwerken neu erfindet. Im Vagabundieren durch das endlose Universum des Digitalen entsteht eine Poesie der Ich-Auflösung, die unablässig neue Rollenmasken für das Ego ausprobiert. Mit solchen Ich-Zerstäubungen nähert sich die jüngste Poesie in gewisser Weise wieder den Erzvätern der Avantgarde an, den poetischen Alchemiekünstlern des Dadaismus.
III
Das Gedicht als dynamisches Mobile, in Wahnwitzkongruenz, Ich-Zerstäubung – und? Natürlich sind noch die alten Terrains der Poesie da, die ausdauernd beackert werden: Die Fallstricke der Liebe (»Da sind Amor und ich ja voller Staunen«: Sandra Burkhardt), die Magie von Landschaften, »alpenträume« (Lara Rüter), surrealistisch verspiegelte Phänomene (wie zum Beispiel das »Magrittezebra« von Sebastian Weirauch), nicht zuletzt »Narziss« und »Nymphe« (bei Maja-Maria Becker) und andere Stücke aus dem Kostümfundus des antiken Mythos. Und diese alten Bestände werden entspannt auf ihre Haltbarkeit und ihre Angemessenheit geprüft: »ich versuche zu dolmetschen. erwarte den / ausbruch. schreibe das im dunkeln, schreibe das auch im hellen.« (Lara Rüter)
IV
Die Anthologie »Ansicht der leuchtenden Wurzeln von unten« ist ein einzigartiges Experiment. Zum ersten Mal werden Gedichte von Autorinnen und Autoren aus den vier bestehenden Literaturinstituten in Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammengetragen: aus dem Schweizerischen Literaturinstitut in Biel (gegründet 2008), aus dem Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien (neu konzipiert 2009), dem Institut für Literarisches Schreiben in Hildesheim (gegründet 1999) und dem Deutschen Literaturinstitut Leipzig (neu gegründet 1995). In einem langen sorgfältigen Auswahlprozess haben die sechs Herausgeber(innen) eine repräsentative Textauswahl erstellt, wobei Autoren vom DLL am stärksten vertreten sind. Insgesamt sind 32 Dichterinnen und Dichter, geboren zwischen 1976 und 1995, in dieser Anthologie versammelt. Sie bezeugen auf schönste Weise die Lebendigkeit, die Vielfalt und den Eigensinn der Gegenwartsdichtung. Alle stereotypen Erwartungen auf eine mögliche Unterscheidung der einzelnen Institute anhand signifikanter literarischer »Schulen« und Stil-«Communities« werden gründlich enttäuscht. Gedichte und ihre Verfasser sind auch hier selbstbewusste und störrische Einzelwesen, »Sonderlinge, Einzimmerbewohner«, wie Gottfried Benn einst mutmaßte, sie entwerfen jeweils ihren eigenen poetischen Kosmos. Diese Sonderlinge hausen manchmal auch in Wohngemeinschaften, sie leben jedenfalls vom ständigen poetischen Austausch und dem Zusammenklang mit anderen ihrer Zunft. Die Überschriften der fünf Anthologie-Kapitel – wie zum Beispiel »mein major postet putschversuche / natürlich hat er alle gerätschaften« – sind Bild- und Vers-Kombinationen, setzen sich aus Elementen von jeweils zwei Gedichten aus unterschiedlichen Instituten zusammen, sind Echos und Überlagerungen.
V
Zu den Eigenheiten dieser Gedichte gehören auch ihren blitzschnellen semantischen Richtungswechsel und Bildbrüche. Um ihnen auf die Spur zu kommen, bedarf es einer verlässlichen Navigation. Auch hier hat Ossip Mandelstam einen Hinweis auf das Verfahren der Text-Begegnung gegeben: »Man muss springend einen Fluss in seiner ganzen Breite überqueren, der voll ist von beweglichen und in verschiedene Richtungen strebenden chinesischen Dschunken – so entsteht der Sinn poetischer Rede. Seine Marschroute lässt sich nicht durch Befragung der Schiffer rekonstruieren: Sie können uns nicht sagen, warum wir von Dschunke zu Dschunke gesprungen sind.«
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