Das Eigene im Anderen. Istanbul.
Kurt Drawert:Vorwort
Seit zwanzig Jahren gibt es die Darmstädter Textwerkstatt, ein zeitliches Feld, das sich in seiner Entstehungs-, Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte kaum mehr überblicken lässt. Ich sehe mich noch mit einer ersten kleinen Gruppe junger Autorinnen und Autoren im Foyer des Literaturhauses Texte diskutieren, so als wäre es eben erst gewesen – damals noch rauchenderweise, was mir jetzt quasi als Bild dazu einfällt. Erlebte und reale Zeit aber sind niemals identisch, und so blicke ich auf die vielen Namen und literarischen Begabungen zurück, die in den zwei Jahrzehnten unsere Werkstatt besuchten, später zum Teil debütierten oder angesehene Literaturpreise bekamen und aus dem Kanon der jungen deutschen Literatur heute nicht mehr wegzudenken sind. Dabei überwiegt die Gewissheit, einen erheblichen Raum der Entdeckung und Entfaltung von Talenten schon durchschritten zu haben und über ein professionelles Format zu verfügen, das, zu einer Schule des Schreibens geworden, im gesamten deutschen Sprachraum anerkannt und nachgefragt ist. Ohne Unterstützung der vielen uns fördernden Einrichtungen, vor allem der Stadt Darmstadt, die uns seit 1998 einen festen Ort der literarischen Arbeit eingerichtet und gesichert hat, wäre das nicht möglich gewesen, und ihnen allen sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Nun wäre der Anspruch, die Geschichte der Textwerkstatt vollständig zu dokumentieren, nur schwer zu erfüllen. So verweise ich auf unsere vorherigen Publikationen, die bis 2010 alle zwei Jahre erfolgten, vor allem aber auf die erste umfassende Anthologie Kasinostraße 3. 15 Jahre Darmstädter Textwerkstatt, die wir 2013 ebenfalls im Leipziger Poetenladen Verlag herausbringen konnten und die eine gut sortierte Auswahl von Texten aller Autorenjahrgänge traf. Dieses Buch nun, so wie es sich in einem Prozess der Annäherung über drei Jahre fast aus sich selbst heraus entfaltet hat, stellt die literarischen Arbeiten von Autorinnen und Autoren der letzten fünf Jahre vor – erweitert um einige Namen, die auch schon in Kasinostraße 3 vertreten sind und hier stellvertretend für Kontinuität stehen mögen oder zum Topos Istanbul konkret etwas beitragen konnten.
Wie aber kam es zu diesem thematischen Bezug? In den Jahren 2014 und 2015 bot sich mir die Gelegenheit, die Darmstädter Textwerkstatt über das Goethe-Institut in Istanbul und die Kulturakademie Tarabya, wo ich selbst als Stipendiat für längere Zeit leben und arbeiten konnte, nach Istanbul einzuladen. Das erste Mal, im Herbst 2014, haben wir deutsche und türkische Lyrikerinnen und Lyriker zusammengebracht, damit sie sich gegenseitig ihre Gedichte übersetzen, woraus dann die zweisprachige Anthologie Die Signatur deiner Augen. Junge Lyrik aus Deutschland und der Türkei hervorgegangen ist. Danach, im Frühjahr 2015 und 2016, habe ich einige meiner Seminare nach Istanbul verlegt, um diese geradezu magische wie an Eindrücken reiche Stadt für poetische Reflexionen nutzbar zu machen. Ich war hier selbst in einer dermaßen produktiven Schreibsituation, dass ich diese Erfahrung der Wirkung eines Ortes auf die Entstehung von Literatur gern weitergeben wollte. Damit war der Grundstein des Buches gelegt – Erzählungen und Miniaturen, Gedichte und Reportagen, die in sehr individueller und ästhetisch differenter Herangehensweise auf die Metropole am Bosporus reagieren. Eine Fortsetzung dieser Erfahrungsreisen sollte es auch 2017 geben, mit einer unterdessen veränderten Autorengruppe, wie sie sich in der Regel alle ein bis zwei Jahre durch neue Bewerbungen ergibt. Daraus aber wurde nichts mehr aufgrund der verschärften politischen Lage im Land. Geblieben ist ein Nachdenken darüber, was das Eigene im Anderen grundlegend bedeutet, oder, mehr noch, inwieweit es außerhalb eines Anderen überhaupt existiert. Politischer und aktueller als diese ist keine andere Frage, und wenn es darauf auch keine einfachen Antworten gibt, so gibt es doch Spuren in die richtige Richtung. Spuren der Sprache, die zur Wirklichkeit werden, Wirklichkeit, die zur Sprache wird. Nicht mehr und nicht weniger haben wir versucht.
|