Aus dem Nachwort
Von realer Gegenwart
Jan Kuhlbrodt zu den Gedichten von Anne Dorn
Heute Nacht stand ein Komet
über dem Haus.
Die Wege glitschen.
Das Zitat, das hier als Motto für das Nachwort steht, stammt aus dem Gedicht Kalter Regen und eröffnet das Spannungsfeld, das die Gedichte des vorliegenden Buches prägt. Den Blick an das Ferne gerichtet, gilt es, den Weg nicht aus den Augen zu lassen. Wir wollen geerdet bleiben. Und dennoch formulieren Anne Dorns Gedichte Utopien, sowohl hinsichtlich eines Ziels als auch mit Blick auf die Herkunft.
»Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«
So endet Ernst Blochs Prinzip Hoffnung, und wie bei Bloch die Hoffnung keine zeitliche Richtung kennt, hält sie sich auch bei Anne Dorn nicht an einen Zeitstrahl, und wie Bloch greift Dorn den utopischen Gehalt der religiösen Erzählungen auf, nimmt ihn Ernst wie eben auch den Weg.
Jakobsleiter ist der zweite Gedichtband der Kölner Autorin. Nicht nur der zweite, der im Verlag Poetenladen erscheint, sondern der zweite überhaupt. Erst der zweite, möchte man sagen, schaut man auf das Geburtsdatum der Autorin und auf die Gedichte, die ein feines und ausgeprägtes Verständnis für Rhythmik und Form verraten.
Aber dieses »erst« sagt nichts, verrät nichts von den Gegebenheiten des Jahrhunderts, das Anne Dorn prägte, ihr Wege eröffnete, vorschrieb und verstellte, die Begrenzung der Möglichkeiten, gerade für Frauen nicht nur auf künstlerischem Gebiet.
Geboren wurde Anne Dorn 1925 im sächsischen Wachau bei Dresden, wo sie auch die größte Zerstörung durch- und überlebte, die von deutschem Boden ihren Ausgang nahm. Den überwiegenden Teil ihres Lebens verbrachte sie aber nicht an der Elbe, sondern am Rhein, wo sie in verschiedensten Berufen arbeitete, immer aber in solchen, die Handwerk und Kunst miteinander auf vielfältige Art und Weise verbinden. Und vielleicht liegt hier die Schnittstelle von Film, Kostümbildnerei, zwei Bereichen, in denen Dorn tätig war, und Lyrik: in einer Verfeinerung des handwerklichen Vermögens, in einer Vervollkommnung der künstlerischen Techniken und der Entwicklung von Kommunikationsfähigkeit.
Noch immer krankt das Dichterbild hierzulande an der Vorstellung des einsamen Genies. In ein solches Bild passt natürlich die berufstätige Mutter nicht, die neben ihrer künstlerischen Tätigkeit vier Kinder großzieht, während der Kindsvater in verrauchten Kneipenzimmern mit anderen Heroen der Dichtung die Zukunft der Lyrik diskutiert.
Dabei gehört auch Anne Dorn zu jener Autorengruppe, die den Rheinischen Realismus ins Leben rief, genannt seien Wellershoff, Herburger, Born und nicht zuletzt Brinkmann, Autoren, die nach dem zweiten Weltkrieg versuchten, die Gesellschaft und die Kunst auf neue moralische Füße zu stellen. Aber die Herren waren sich ihrer Sache wohl noch sehr sicher und machten keinen Zentimeter Platz. Dorn jedoch entwickelte in den oben genannten Arbeitsbereichen und auch im Hörfunk ihr Vermögen, das sich an der Struktur ihrer Gedichte erweist.
Anne Dorn legt mit Jakobsleiter also einen Gedichtband vor, in dem sie Erinnertes mit Gegenwärtigem engführt. Geschichte erweist sich hier als Erfahrungsspeicher, der eingeübtes Vermögen aufhebt und wieder zugänglich macht, vergegenwärtigt im besten Sinne.