KASINOSTRASSE 3. EINE VORBEMERKUNG
Kurt Drawert
Selten stand für mich der Titel eines Buches so schnell fest wie dieser, den ich für unsere Anthologie mit einer Auswahl von Prosa und Lyrik aus 15 Jahren Textwerkstatt fand: Kasinostraße 3. Zum einen, weil der Name konkret ist und den Ort unserer Zusammenkünfte im Darmstädter Literaturhaus, wo wir über eigene Räume verfügen, nennt, zum anderen, weil er das konnotiert, was das Riskante daran ist: nicht zu wissen, wohin die Reise ins Innere der Textwelten geht. Denn Schreiben, literarisches Schreiben, ist deshalb immer auch Wagnis und Überraschung, weil es keine festen Grenzverläufe von Absicht und Produktion, Bewusstsein und Unbewusstem, Realität und Fiktionalität gibt und immer etwas miterzählt wird, das vorher unbekannt und vielleicht sogar unbeabsichtigt war. Literatur, die nicht mehr bedeutet als das, was sie dargestellt hat, ist keine; und das wiederum heißt, sich einzulassen auf eine Sprache jenseits der Ressentiments und gesellschaftlichen Verabredungen, in denen schon feststeht, wie etwas zu erscheinen hat und was es verkörpert. Dieses Abenteuer in die entlegensten Winkel der singulären wie kollektiven Existenz gleicht einer Seefahrt ohne Karte und Kompass, und wie Odysseus mit den Sirenen, so kämpft der Autor mit Wörtern und Sätzen – das heißt, er muss ihre Verführungen spüren und die falschen Signale, um unbeirrt auf dem Weg seines Textes zu bleiben, der immer auch eine Ahnung von etwas Anderem ist, das nie zu einem erzählerischen Abschluss gebracht und erkannt werden kann. Poesie, so sagten es schon Jakobson und später Lacan, ist Wissen vom Unbewussten, und das eben dadurch, dass sie zur Sprache und damit zur Evidenz gebracht hat, was im Verborgenen handelt und denkt. Ebenso aber zeigt sie, dass es die Verlässlichkeiten, auf die wir uns so gerne verlassen, nicht gibt, und dass es zu den großen Illusionen gehört, sich die Welt als eine kohärente, verständliche und logische Ordnung zu denken. Hier, im Erkennen der Brüche, Risse und Disharmonien, von denen die Sprache unablässig spricht, beweist sich, wer über Begabung verfügt. Denn es reicht noch nicht aus, ein Gespür für die Entfaltung eines literarischen Stoffes zu haben, für Metaphern und Metonymien, für Rhythmus, Geschwindigkeit und Klang. Auch reicht es noch nicht, über eine Geschichte zu verfügen und sie im richtigen Tonfall vorzutragen – wenn, ja wenn jene unbedingte Einlassung auf das Fremde, Ferne, Andere, wie es die Sprache zum Vorschein bringen kann, ausbleibt, aus Angst, aus Vorsicht, durch Konventionen und Abhängigkeiten der verschiedensten Art. Die Überschreitung zu wagen, wo autoritäre Ideologien und lexikalisierte Sprachbausteine ihren Sitz schon gefunden und ihre kulturelle Züchtigung durchlaufen haben, ist die vielleicht wichtigste Eigenschaft, damit eine Begabung zu sich selbst kommen und Bedeutendes erreichen kann. Große Leistungen, gleichviel auf welchem Gebiet, sind immer entstanden vor dem Hintergrund einer Infragestellung all dessen, das bis dahin für wahr und unumstößlich gehalten wurde. Der Zweifel, nicht die Gewissheit, ist primäre Bedingung von Erkenntnis. Das meinte auch Descartes mit seinem berühmten ego cogito, ergo sum – »ich denke, also bin ich«; ergo sum, ergo existo – »also bin ich, also existiere ich«. Nicht der Geist generiert die Materie, wie es so oft und falsch verstanden wird, sondern die absolute Begründung des Zweifels wird im Augenblick ihrer Selbstwahrnehmung außer Kraft gesetzt; denn wenn das Subjekt sich als denkend erlebt, muss es existieren – und das ist dann der einzige Satz, der keinen Zweifel mehr zulässt. Von dieser einzigartigen und stets auch bedrohten Position aus schreiben wir, und sie hat tatsächlich nur den einen inneren Standort: das erzählende, dramatische oder lyrische, das poetische Ich.
Nun will ich nicht unbescheiden sein und mit der größten aller Ellen messen; allein die Hälfte dieses Anspruchs, die gefundene Richtung, das erahnte Resultat, unerreichbar und abwesend immer, sind es, die entdeckt und freigelegt werden können. Jede Blockade – und keiner, der es ernst mit dem Schreiben meint und sie nicht kennt – berichtet davon, was dem Schreibziel im Wege steht und welcher Text den Text verhindert, und es ist auch ein Kampf der Regel mit dem Regelverzug, der Konvention mit der Innovation und der Sprache mit jenen Akten des Sprechens, die sie subjektiv überschreiben. Von literarischem Handwerk lässt sich immer reden, und es ist auch wichtig und richtig, das zu tun. Nur berührt dieser Aspekt in der Produktion von Literatur allein den technischen Teil, die Mechanik, die immer noch leerläuft, wenn sie substantiell nicht gefüllt wird; ein Herz, das nicht schlägt, kann nicht schön sein, und eine Geschichte, die keinen Stil hat, oder, altmodischer noch, keine Seele, lässt uns sehr herzlich kalt. Wir ahnen also, wie komplex und kaum in wenige Sätze zu bringen die Sache des Schreibens ist und wie sie eben nicht nur alle Bereiche des Lebens tangiert, sondern sie auch beeinflusst und verändert. Dieser Vielgestaltigkeit im Prozess des literarischen Schreibens, ihre Erfolge und Verwerfungen, Glücks- und Krisenmomente sind Gegenstand unserer Arbeit in der Textwerkstatt, die gewiss auch ein Privileg ist, eine Chance und ein Kraftfeld für alle, die an ihr partizipieren. Das poetische Ereignis, wo es gelingt und erscheint, ist Wunder genug, aber keines, das voraussetzungslos und aus sich selbst heraus entsteht. Es braucht immer auch den Anderen, der es entdeckt, empfindet und empfiehlt, kurz: es braucht den Kontakt zu einer lesenden Gemeinschaft.
So assoziiert Kasinostraße also auch das nicht zu unterschätzende kleine Quantum Glück, ohne das alles nichts ist; Glück, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein, die richtigen Leute kennenzulernen, die richtigen (kritischen) Meinungen zu hören und vor allem: richtig verstanden zu werden, oder wenigstens, da das eine stets unerfüllbare Idealvorstellung ist, verstanden zu werden in hinreichend ähnlicher Logik und Form. Einen Raum anzubieten frei von Zwecken, von Konkurrenz und Rivalität, von Verhältnissen also, die auf jeden Einzelnen im sozialen und politischen Geflecht eines zunehmend kapitalorientierten Betriebes zukommen werden oder schon zugekommen sind – das ist es, was wir ein Geschenk nennen können. Und Geschenke bekommen wir zurück, wie dieses Buch – unvollständig und lückenhaft, was die Vielzahl weiterer Autorinnen und Autoren betrifft, die hier hätten ebenso erscheinen können – es beweist.
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