Madame Gabel liebt das Wiedererkennen
Anmerkungen zu Jörg Schiekes »Antiphonia«
von Jan Kuhlbrodt
Und wars mit noch so kleinen Dingen,
Groß war der Dank, den sie empfingen;
Mehr als genug gedaucht es sie.
Wolfram von Eschenbach, Parzival
(Übertragen von Karl Simrock)
Mit
Antiphonia legt Jörg Schieke ein langes Gedicht vor, das lust- und kunstvoll einen Parforceritt durch die Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit zelebriert. Rein inhaltlich, wie man so sagt. Formal aber lässt es Formen auferstehen, die vergangen scheinen, aber zyklisch ihren Anspruch auf Gegenwärtigkeit geltend machen. Immer wieder findet das Epos seinen Weg zurück in den Vers, dem es letztlich entstammt und aus dem es erst in der bürgerlichen Epoche in den Roman floh.
Beispiele aus jüngerer Zeit sind zum Beispiel der Versroman
Rot der kanadischen Dichterin und Altphilologin Anne Carson oder Rimbereids
Solaris korrigiert. Diese beiden Werke seien hier angeführt, weil sich Familienähnlichkeiten ausmachen lassen zu Schiekes Versuch an der großen Form. Sie beanspruchen Gegenwärtigkeit, indem sie Phänomene wie Raumfahrt oder Popkultur, die uns unmittelbar vorliegen, mit mythischen Vorstellungen kurzschließen, und Zeit, zumindest unsere Zeitvorstellungen, auf wunderbare Weise aufheben. Vergangenheit und Gegenwart scheinen hier wechselseitig auseinander hervorzuwachsen.
Eine Familie schafft Protagonisten, sie werden, wie es in Schiekes Text heißt, »veröffentlicht«. Und in dieser Wortwahl allein zeigt sich die sprachliche Durchdrungenheit einer Welt, die pausenlos produziert, hervorbringt. Und das, was sie hervorbringt, was sich nach Marx als eine unüberschaubare Ansammlung von Waren darstellt, ergibt gleichermaßen einen ebenso unüberschaubaren und demokratischen Kosmos. Als Fixsterne flackern darin die Markennamen, befestigt an sich drehenden Schalen im Firmament. Und:
»Heiner, um sich zu wehren, / hatte
Das Antiphon erfunden.«
Das Gedicht, jedes Gedicht, selbst dort, wo es sich in Alltagsfloskeln oder technischen Zitaten flüchtet, erhebt Anspruch auf den hohen Ton, fordert ihn auch für das Profane ein. Das heißt aber auch, dass es das Profane entprofaniert und ihm so Gerechtigkeit widerfahren lässt. Das ist seine sprachdemokratische Funktion.
Wir befinden uns an einem Ort zwischen Ostsee und Atlantischem Ozean, zwischen Greifswald und Alpha Centauri, angefüllt mit Insignien spätkapitalistischer Melancholie. In dieser Gegend, die wir Gegenwart zu nennen gewohnt sind, liegt vieles, vielleicht alles, aufgehoben, das einmal dem Untergang anheimfiel. Denn man braucht nur an den oberen Schichten der Sprache zu kratzen, und es zeigt sich in einem aktuellen Licht.
»Da wirst du mit einem Tritt in die Eier geadelt«, heißt es in einem Gedicht Schiekes aus den Neunzigerjahren, »... und erzählst zwei Geschichten in einer.«
Schieke erzählt Geschichten, und nicht nur zwei, Geschichten, die sich nach innen immer weiter verzweigen, sich äußeren Einflüssen nicht versperren, sondern Anlass nehmen zum Beispiel in der
Löffelfamilie, einer restaurierten Lichtwerbung in der Leipziger Südvorstadt, und zugleich ihren Ausgangspunkt finden in einem immerwährenden Klassentreffen:
»Eine Harfe / am Kranhaken schwebend über einem von dreißig Schul-/kameraden gemeinsam ausgepinkelten Feuer –«
Und Schiekes Text nimmt neuere Mythen auf, die auch schon wieder vergangen sind, wie Lenins Fahrt im verplombten Eisenbahnwagen von der Schweiz aus durch Deutschland in das vorrevolutionäre Russland.
Veröffentlicht wurde Jörg Schieke von seinen Eltern 1965 in Rostock und wuchs in der Hansestadt am Strelasund auf. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und lebt seitdem an Elster, Parthe und Pleiße, war Redakteur der Literaturzeitschrift
Edit und arbeitet als freier Mitarbeiter beim MDR. Sein literarisches Debüt erschien 1995 im Berliner Galrev Verlag. Schon hier kündigt sich ein unverwechselbarer melancholisch-humorvoller Ton an, den Schieke in den folgenden Veröffentlichungen verfeinert. Im vorliegenden Epos erreicht diese Bewegung einen zumindest vorläufigen Höhepunkt.