Unser Reichtum, die Geschichten
Aus dem Vorwort von Michael Hametner
Unser Reichtum sind die Geschichten, die wir kennen. Oder muss ich abgeschwächt formulieren: Ein Teil unseres Reichtums sind Geschichten, die wir kennen? Das klingt nicht so absolut. Aber ich glaube an die Wahrheit der absoluten wie der relativierten Satzaussage.
Jede gute Geschichte ist ein Kontakt zur Welt und damit die Begegnung mit anderen Menschen, literarisch gestaltet als Figur. So vielen glücklichen, unglücklichen, kurzen, langen, geglückten, verpatzten Leben kann ich im Leben nicht begegnen. Die Geschichten, die ich lese, können mich erheitern oder traurig stimmen, sie können mich weglocken von meinem Alltag oder mich auf seinen Grund führen, dass ich ihn besser verstehe. Sie können mir die Augen öffnen oder meinen Tag- und Nacht-Träumen neue Phantasiewelten hinzufügen. Zugegeben: Sie können mich auch kalt lassen.
Weil mein Leben zwischen Frühstückstisch und Büro selten abenteuerlich verläuft (nicht einmal im Urlaub geht es bei mir besonders abenteuerlich zu), brauche ich Geschichten. In meiner Lese-Phantasie bin ich der Held, sein Bewunderer, Retter oder Richter. Als einer der neun aufrechten Leser aller Texte, die in jedem Jahr beim MDR-Literaturwettbewerb eintreffen, bin ich mit Geschichten regelrecht gesegnet. Ich gebe zu, dass beim Lesen nicht nur Freude aufkommt, weil auch missglückte Geschichten darunter sind.
Die Lesefreude ist auch aus einem anderen Grund nicht ungetrübt, weil ich fürchte, besondere, gelungene, ausgezeichnete Geschichten nicht zu entdecken. Ich glaube, wir Vorleser der nahezu zweitausend Kurzgeschichten, die uns in den letzten Jahren beständig erreichen, beten auch deshalb ständig die Namen früherer Gewinner herunter, weil ihr Klang im Literaturbetrieb uns von wesentlichen Irrtümern freispricht. Noch bevor ihren Namen viele kannten, haben wir Clemens Meyer entdeckt, Thomas Pletzinger, Franziska Gerstenberg, Katja Oskamp, Claudia Klischat, Martin Gülich, Finn-Ole Heinrich, Leif Randt, Matthias Nawrath, Andreas Stichmann. Mit ihren Romanen, die danach erschienen sind, sind sie bekannt geworden, haben andere Preise erhalten und begeisterte Leser gewonnen.
So habe ich aufs Neue treu nach Gewissen und Geschmack ausgewählt. Ich bin überzeugt, dass dieses Buch Sie eine schöne Lese-Zeit lang begleiten wird. 27 neue Kurzgeschichten sind 27 Mal Unterhaltung, Spannung, Extravaganz, Experiment und Wagnis. 27 Autoren-Handschriften, 27 unterschiedliche literarische Stimmen.
Das Beste aus dem Guten versammelt diese Anthologie: 27 Geschichten, darunter die aller Preisträger von 2013 im MDR-Literaturwettbewerb – in diesem Büchlein zum Nachlesen. Als Lese-Verführung hin zur Erfahrung, die dieses kurze Vorwort einleitete: Unser Reichtum sind die Geschichten, die wir kennen. – Mehr ist nicht zu sagen.
Vorowort von Michael Hametner
Risikoanalyse.
Die besten Geschichten aus dem MDR-Literaturwettbewerb 2013
|