Vorwort
Der Traum vom Preis
Ein Rückblick auf 20 Jahre MDR-Wettbewerb
Von Michael Hametner
Was hat sich verändert – bei den Themen und Schreibweisen? Bei den Autorinnen und Autoren, die sich mit ihren Kurzgeschichten beteiligen? Diese Fragen bewegt das Vorwort zu Band 20 in der Reihe der Jahresanthologien im MDR-Literaturwettbewerb. 20 Jahre MDR-Literaturwettbewerb bedeuten allein hier in veröffentlichter Form dieser jährlich erscheinenden Anthologien rund 400 Kurzgeschichten. (Es dürften mehr als 25.000 Kurzgeschichten gewesen sein, die in den 20 Jahren auf dem Postweg den MDR erreicht haben.)
Es sei noch einmal an den Grundgedanken erinnert, der diesen Literaturwettbewerb 1995 an den Start geführt hat. Nach der Friedlichen Revolution im Herbst '89 hatte nach vierzig Jahren schmerzlicher Trennung am 3. Oktober 1990 die deutsche Wiedervereinigung begonnen. Etwas, was viele der damals Beteiligten berechtigt als Wunder bezeichnen. Es bedeutete vor allem für die Menschen im deutschen Osten gravierende Veränderungen, die tief in ihr Leben einschnitten. Ob davon nicht auch in Geschichten zu erzählen sei, ja, erzählt werden müsse? Warum sollte nicht ein öffentlich-rechtlicher Radiosender – wie der gerade Dank der deutschen Wiedervereinigung 1992 neugegründete MDR – ein schnelles Forum zur Veröffentlichung dieser Kurzgeschichten sein? Ein schnelles und zusätzliches Forum, fiel es doch vielen neuentstandenen, aber beim Agieren auf dem Markt ungeübten Verlagen schwer, neue Belletristik durchzusetzen. Es war die Zeit, als die West-Verlage sich um die Großen der DDR-Literatur rissen – Braun, Wolf, Hein, de Bruyn –, selten aber um neue Namen.
Wurden in den ersten Jahren dem MDR-Literaturwettbewerb Kurzgeschichten vorgelegt, in denen die Geschichten zu lesen waren, für die die Themen und Stoffe sprichwörtlich auf der Straße lagen? Kurt Wünsch, Schriftsteller des Jahrgangs 1939, erzählte im Wettbewerbsjahrgang 1996 unter dem Titel Gauloises Blondes – Freiheit für Dich von zwei arbeitslos gewordenen Chemiearbeitern, die sich über ihr persönliches Schicksal mit der Freiheit, zwischen vielen Zigarettensorten wählen zu können, hinwegtrösten. »Jetzt haben wir doch die Freiheit auszuwählen«, sagt der eine. »Nee«, sagt der andere, »ich gehe kein Risiko mehr ein.« Kurt Wünsch hatte Erfahrungen mit der neuen Freiheit in diesen Jahren pointiert in eine Kurzgeschichte gefasst. Der 1940 in Leipzig geborene Gunter Preuß stellte in seiner Kurzgeschichte Grüner Mond die Lust an der Freiheit neuen Ängsten gegenüber. Beide Autoren hatten in diesen Jahren keine Verlage hinter sich, die interessiert waren, ihre Geschichten zum Buch zu machen. Beide gewannen mit ihren Geschichten den Hauptpreis nicht. Er ging an Henner Kotte für eine Kurzgeschichte über eine Familientragödie, erzählt aus der Perspektive des ahnungslosen Kindes. Trotzdem: Für Wünsch und Preuß und viele andere Schriftsteller in dieser Zeit war der MDR-Literaturwettbewerb gemacht.
Auch dem jungen Clemens Meyer, damals im zweiten Jahr Student am Deutschen Literaturinstitut, hatte der Wettbewerb etwas zu bieten. Er bot ihm für seine Kurzgeschichte Kinderspiele einen ersten öffentlichen Testlauf. Meyer gewann auf Anhieb den Hauptpreis im Jahr 2001, da existierte der Wettbewerb sechs Jahre. Die Preisgeschichte Kinderspiele eröffnet später seinen ersten Roman Als wir träumten. Zwar erzählt er darin ganz im Sinn des Wettbewerbgedankens vom neuen Freiheitsgefühl ostdeutscher Jugendlicher, das für einige von ihnen tragisch endet – Randbewohner bleibt Randbewohner –, aber Meyer nutzte den Wettbewerb nicht nur als Stoff- und Themen-Küche. Er wollte erfahren, wo er literarisch steht. Als er durch den Preis feststellte, dass er ziemlich weit vorn stand, kam sein Romanprojekt in Fahrt.
Bald waren es nicht mehr die Extra-Themen der ostdeutschen Autoren, die den Wettbewerb dominierten, sondern gesucht wurde die Gelegenheit, sich literarisch öffentlich zu zeigen. Es hatte für den MDR nicht länger Sinn, den Wettbewerb nur für Autoren aus Mitteldeutschland auszuschreiben – wie die ersten sieben Jahre geschehen. Auf dem Weg des Zusammenwachsens im Verlauf der deutschen Einheit waren auch die Themen und Stoffe in der Literatur dabei zusammenzuwachsen. 2003 holte der 1971 in Hamburg geborene Nils Mohl – inzwischen bereits mit drei Romanen beim ROWOHLT-Verlag zuhause – einen Preis mit einer fein gearbeiteten Trennungsgeschichte (nicht von zwei Staaten, sondern von Mann und Frau!), in der er die Möglichkeiten der kurzen Prosa auskostete. Der MDR-Literaturwettbewerb war ins Offene gekommen. Die Zahlen der Teilnehmer überschritten schnell die Tausender-Marke und bald auch die Zweitausender. Der Wettbewerb war zum deutschlandweit meistgesuchten für Kurzgeschichten geworden. Gesucht vor allem vom literarischen Nachwuchs. Autoren mit bekannten Namen blieben über die Jahre mehr und mehr aus. Vielleicht war es ihnen nicht geheuer, als Anonymus mit ihren Manuskripten auf den Schreibtischen der Juroren zu liegen. Ausnahmen blieben Kathrin Schmidt, Tanja Dückers, John von Düffel, Peter Wawerzinek und einige andere.
Die Attraktivität des MDR-Wettbewerbs mag viele Gründe haben. Vielleicht weil für die Form der Kurzgeschichte nur wenig öffentlich bekannte Wettbewerbe ausgeschrieben sind, sie aber literarisch sehr attraktiv ist. Attraktiv auf der einen Seite, aber auf der anderen dem Autor auch viel Formbewusstsein abverlangend. Wie schafft man es, dass im Text nur das eine Siebtel des Eisbergs sichtbar ist, aber die anderen sechs Siebtel spürbar werden, wie es Hemingway von der Kurzgeschichte verlangt hat? Von einem Argument wissen die Wettbewerbsmacher, dass es viel zur Attraktivität des Wettbewerbs beiträgt: sein anonymes Bewertungsverfahren. Alle eingesandten Kurzgeschichten liegen den Juroren anonym vor. Sie finden an Stelle des Autorennamens eine Zahl vor, die jedes Manuskript bei Annahme nach Reihenfolge des Eingangs erhält. Bis die Finalrunde mit den sieben Kandidaten für die Endrunde bestimmt ist, kennen die Juroren keinen Verfassernamen!
Dass der MDR verantwortlich mit den Einreichungen umgeht – in diesem 20. Jahr sind es 1777 vorgelegte Kurzgeschichten – und sich ein späterer Preisträger schon etwas auf seinen Preis einbilden kann, wird daran erkennbar, dass der Siegertext durch die Hände von 16 Juroren gegangen ist. Neun Vorjuroren und sieben, die am Abend der Finalrunde die Entscheidung über die Preisträger treffen. Es mag trotzdem mancher Klasse-Text übersehen worden sein, aber viele können es nicht gewesen sein. Dafür spricht die stolze Liste der Preisträgernamen: von Clemens Meyer bis Katja Oskamp, von Franziska Gerstenberg bis Thomas Pletzinger, von Leif Randt bis Matthias Nawrat, von Finn-Ole Heinrich bis Andreas Stichmann. Fast alle sind mit ihrem Label »Gewinner des MDR-Literaturpreises« danach von großen Verlagen angeschaut und nicht selten unter Vertrag genommen worden. So soll es sein in der überfüllten Szene neuer Namen und neuer Stimmen, die Eingang in die Literatur verlangen. Die deutsche Gegenwartsliteratur braucht die Vorauswahl durch literarische Wettbewerbe. Sie braucht Bewegung. Nicht, weil alte Namen zu ersetzen sind, sondern weil die neue Generation neue Geschichten zu erzählen hat, die wir nicht verpassen dürfen.
Es ist ein starker Reiz, der von der Kurzgeschichte ausgeht: Sie kann kleine und große Weltwahrnehmungen aufspüren und muss sie auf knappstem Raum formulieren. Dieser Reiz steht mit dem 20. Band der Jahresanthologien dem Leser zur Entdeckung bevor. Er findet hier – nach Meinung des Herausgebers – die 25 besten Kurzgeschichten des Jahrgangs 2015 versammelt. Weil die Auswahl quasi bis zur letzten Minute für die sieben Finalisten offengehalten worden ist, sind auch die Preisträger des Jahrgangs 2015 darunter.
Keine Geschichte ist wie die andere!