Dieser Band versammelt ausgewählte Gedichte des Lyrikers Jürgen Nendza und gibt Einblick in 20 Jahre seiner dichterischen Arbeit. Das Spektrum reicht von Gedichten lang vergriffener Gedichtbände wie Finistère bis hin zu Beispielen aus seinem neuesten Band Apfel und Amsel. In acht Kapiteln klingen Themen und Motive an, die – über die Jahrzehnte hinweg – für sein Werk prägend sind.
„Weder in der strengen Ordnung noch in der gänzlichen Auflösung der Konturen finden Nendzas Gedichte ihren Weg, sondern in einer Art Zwischenwelt, am Rand der Bilder und Wahrnehmungen, dort also, wo Grenzflächenspannung spürbar wird.“
Neue Zürcher Zeitung
„Jürgen Nendza ist ein Architekt poetischer Schwebezustände.“
Westdeutscher Rundfunk
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Stimmen
»Der Auswahlband Mikadogeäst ist ein Selbstporträt des Lyrikers Jürgen Nendza, der zu den interessantesten seiner Generation zählt.«
Süddeutsche Zeitung, Lothar Müller
»Eine repräsentative Sammlung mit Gedichten aus 20 Jahren legt der 1957 in Essen geborene Lyriker Jürgen Nendza vor: Mikadogeäst. Seine Exerzitien der Wahrnehmung sind einmalig in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik«
Deutschlandfunk, Büchermarkt
»Ich empfehle die Gedichte aus 20 Jahren des stillen, aber bemerkenswerten Lyrikers Jürgen Nendza: Schwebend, aber stets zum Greifen nahe, kommen seine Sprachbilder, die immer auch Gedankenbilder sind, daher. ... Es sind schöne, leichte, ernste Gedichte eines Poeten, der es versteht, Herz und Verstand gleichermaßen aufzuwühlen.«
SWR-Bestenliste 09.2015, Hajo Steinert
»Der Band Mikadogeäst blickt auf die letzten 20 Jahre zurück, in denen Jürgen Nendza Gedichte geschrieben hat. Ich muss sagen: Jürgen Nendza spürt den Worten sehr genau nach. Wie er die Worte zueinander komponiert – das steckt unheimlich viel drin.«
WDR 5, Scala, Jörg Biesler
»Mit leichter Hand und einem großen Gespür für Rhythmus erkundet Nendza die Verschiebungen am Rand der Erinnerung. Seine Gedichte lockern das Gewebe der Wahrnehmung immer wieder neu, in Staunen und 'schwebenden Verfahren'.«
Stuttgarter Zeitung, Nico Bleutge
»Die Gedichte von Jürgen Nendza stiften produktive Unruhe. Und das tun sie meisterhaft.«
Michael Braun, DLF, Büchermarkt
»Man kann diese Sammlung ausgewählter Gedichte Nendzas unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmungsverschiebung lesen. Aber nicht nur hinsichtlich optischer und natürlicher Phänomene. Im Durchstreifen der Landschaft, im Überfliegen, vermischen sich auch historische Prozesse, scheinbar Abgeschlossenes mit Gegenwärtigem. Man könnte hier von einem social aliasing sprechen, grandios zu erfahren im langen Gedicht Piegaresische Fenster.«
Signaturen-Magazin, Jan Kuhlbrodt
»Von Jürgen Nendzas Gedichte geht eine besondere Kraft aus: sie entschleunigen. Er lässt seine Leser innehalten. Er ist ein Erfasser und Verfasser des Augenblicks – «
Aachener Zeitung/Aachener Nachrichten, Thorsten Karbach
»Mit dem Sammelband Mikadogeäst gibt jürgen Nendza Einblick in 20 Jahre seiner dichterischen Arbeit. ... In acht Kapiteln klingen Themen und Motive an, die über Jahrzehnte hinweg sein Werk prägen und in denen sich immer wieder zeigt, mit wie viel künstlerischem Feingefühl der Lyriker Wahrnehmungsgewohnheiten aufbricht und sich an die Ränder des Realen herantastet.«
Pressedienst Düsseldorf, Michael Frisch
»Jürgen Nendza versucht, Welt und Bedeutng ins Wort zu holen und auf einen poetischen Mehrwert für das Subjekt hin abzuhorchen. Dabei unterschlägt er finstere Welt nicht, sie schlummert nur. Er ist ein Meister der (auf den ersten Blick) unauffälligen lyrischen Form. Ihm gelingt es, Alltägliches und Poetisch-Hintersinniges so zu verbinden, dass die Bilder leicht schweben und wie selbstverständlich erscheinen.«
Signaturen, Hendrick Jackson (Oktober 2016)
» Mikadogeäst von Jürgen Nendza enthält eine Auswahl von Gedichten, die bereits in vorherigen Bänden erschienen sind. Ein Best of also? Ja, weil die Gedichte wunderbar sind. Und nein: denn die Neuzusammensetzung erschafft Zusammenhänge, die über eine Best-Of-Anthologie hinausgehen. Diese neuen Verbindungen zeigen sowohl das Festhalten von Motiven auf als auch ihre stilistische Abwandlung /.../ und dass die Dichotomie zwischen Sinnlichkeit und analytischer Geste, die im Bestehenden ein Originäres sucht, die in der Ratio die Basis der Ahnung findet, programmatisch ist für Nendzas Lyrik.«
Luxemburger Tageblatt, Guy Helminger (September 2016)
»Jürgen Nendza ist ein stiller, aber beharrlicher Dichter. Seine Texte sind bildliche Erkundungen von Grenzen der Sprache, von Sprachgrenzen. Und er ist ein Meister darin zu zeigen, mit wie wenig Grundmaterial Poesie auskommt.«
Ostragehege, Juni 2016
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Aus dem Nachwort
»Wir treffen uns im Apfel«
Versuch über Jürgen Nendzas Dichtung
Von Jürgen Egyptien
Sieben ist eine besondere Zahl, und so hat es seinen guten Sinn, wenn Jürgen Nendza nach sieben Gedichtbänden nun eine Auswahl aus mehr als zwanzig Jahren lyrischen Schaffens vorlegt. Man sieht sofort, dass man es mit einem Werk von ganz eigener Gestalt und Tonlage zu tun hat. Schon früh beginnt sich die zweizeilige Strophe als die bevorzugte Form herauszuschälen. Ab dem dritten Band Landschaft mit Freizeichen (1996) dominiert sie seine Gedichte, und nicht wenige von ihnen verkürzen die letzte Strophe noch weiter zum Einzelvers. Auf diesem Hintergrund sticht der Zyklus ... sagen die Luftwurzeln aus der Rotation des Kolibris (2008) mit seinen einstrophigen, bis zu 23 Verse umfassenden Gedichten heraus. Darauf wird zurückzukommen sein.
Die Vorliebe für die zweizeilige Strophe ist kein Manierismus, sie ergibt sich schlüssig aus der Verschwisterung von Nendzas Dichtung mit dem Element Luft, genauer: aus ihrer Grundtendenz der Levitation und des Verschwebens. Durchlässigkeit und Transparenz sind weitere Eigenschaften der Kurzstrophe, die Nendza nach vorne und hinten offenhält. Das heißt, die Verwendung des Enjambements ist nahezu der Regelfall, der syntaktische Bogen reicht über Zeilen- und Strophenenden hinaus. Aus dieser Neigung zur Übergänglichkeit des Sprechens resultiert Nendzas Nobilitierung des »und«, das gelegentlich den Satz startet, so als schlüge man einen Nagel in die Luft. Der Titel des vierten Gedichtbands Und am Satzende das Weiß (1999) unterstreicht das.
Die Versifikation arbeitet auch sonst methodisch der sich abschließenden Einheit der Zeile entgegen. Von Beginn an fällt auf, wie sehr Nendza die Zeile mit Zäsuren durchschießt. Nicht selten weist eine einzelne Zeile zwei Satzschlusszeichen auf, zerklüftet den Vers durch die Kombination aus Punkt, Doppelpunkt, Fragezeichen. Mit dieser Technik gehen die freirhythmische Metrik und die Reimlosigkeit ein natürliches Bündnis ein. Wo, selten genug, einmal ein Reim auftaucht, wie in einigen der dreistrophigen, aber nur siebenzeiligen Finistère-Gedichte (1993), ist er in möglichste Ferne gerückt und als Klangeffekt praktisch kassiert. Freilich sind klangästhetische Akzentuierungen der Sprache Nendzas nicht fremd. Es gibt durchaus geballte Alliterationen. So beginnt das Gedicht Landschaft mit der Zeile »Landschaft aus Brotpapier, Birke und Boot«, in den Singenden Kirschen liest man die Zeile »Kilometerstein, Konjunktion und Kreuzung. Dein Kopf«, in Hinterland III steht die asyndetische Wortfolge »Stromsperre, Störung, Streckenmeister«, und im siebten Gedicht des Luftwurzel-Zyklus begegnen die Verse »spannt deine Brust / Bogen, Braue und Bucht.« Es lässt sich daher nicht behaupten, dass diesen Gedichten jede Musikalität abginge, sie verfügen allerdings über eine gleichsam antimimetische. Das heißt, sie besitzen einen eigenen Rhythmus, der sich keiner vorgefertigten Melodien bedient, vielleicht könnte man sie am ehesten mit einem synkopenreichen Jazz in Verbindung bringen.
Nendzas Dichtung sträubt sich gegen eine thematische Charakterisierung. Sie ist offen für alles. Man kann einiges anführen, was wiederkehrt. Es ist eine Dichtung, die ihren Ausgangspunkt nicht selten in der nächsten privaten Umgebung findet. Der Blick hakt sich an einem rotweingefleckten Tischtuch fest, er bleibt am Fensterrahmen hängen, er verwickelt sich in die windbewegte Wäsche auf der Leine, er folgt den Flugbewegungen von Wespen, Staren und Amseln, er spaziert auf dem »Hochseil Horizont« oder fixiert Haarrisse im Waschbecken. Man würde aber wohl fehlgehen, wenn man deshalb von Alltagsdichtung sprechen wollte. Nendzas Texte bestehen auf Artifizialität. Dies manifestiert sich schon im reichen Wortschatz dieser Dichtung. Nendza gehört zweifelsfrei dem Typus des poeta doctus an, ohne je sich vor dem Leser bildungsstolz zu spreizen. Der Zugriff auf Fachsprachen, Flurnamen, Kulturelles und Historisches entspringt mit großer Selbstverständlichkeit dem dichterischen Ringen um Präzision. Dabei besteht eine besondere Qualität darin, dass die Fachbegriffe, die nicht selten technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen entstammen, im Kontext des Gedichts wie mit glücklicher Hand gefügte Neologismen wirken.
Zudem überschreitet seine in Alltagskontexten einsetzende Dichtung ihr Ausgangsmilieu zuverlässig in Richtung auf poetische Selbstreflexivität. Auch kommt bei dem promovierten Linguisten Nendza, der in seiner Doktorarbeit das Verhältnis von Wort und Fiktion (1992) untersuchte, nicht selten eine erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Dimension ins Spiel. Dabei erhält die Rolle des Sprechers eine wesentliche Bedeutung. Individualität wird als unhintergehbares Apriori des dichterischen Sprechens behauptet, entgegen zeitgenössischen Tendenzen zu ihrer Auflösung in ein allgemeines Sprachraunen. In der Tradition von Formulierungen der Kritischen Theorie wird Individualität in der Negation verortet. Die Individualität wird in den Entwurfscharakter der Dichtung einbezogen, sie erscheint als eine Leerstelle, die sich jeweils im Akt des Sprechens neu konstituiert, ohne eine definitive Gestalt anzunehmen. Wenn Nendza zustimmend die produktionsästhetische Auffassung des Lyrikers Jürgen Becker zitiert, dass jedes Gedicht seine eigene Methode erfordere, das heißt als ein Individuum betrachtet werden kann, bei dessen Entstehung nicht auf Herstellungsverfahren anderer Gedichte zurückgegriffen werden kann, dann gilt auch für das Dichter-Individuum, dass es sich mit jeder sprachlichen Ausdrucksgeste neu hervorbringt. Nendza bestimmt als eine wesentliche Aufgabe des Gedichts das »Ausschreiten der Sprache«. In diesem Zusammenhang könnte man diese Aufgabe nicht nur als einen Versuch verstehen, im Sinne Wittgensteins die Individualsprache im Rahmen einer Allgemeinsprache zu konturieren und ihr ein eigenes unverwechselbares Gepräge zu geben, eine »neue Fassungskraft«, wie es bei Ingeborg Bachmann hieß. Man könnte das »Ausschreiten der Sprache« auch als einen permanenten Prozess der Individuation begreifen, als eine Arbeit an der Subjektwerdung sozusagen.
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WIEDER TRITT DER FRÜHLING über
die Schwelle: Kirschblüte, narkotisch ihr Gewicht
in Transparenz, Verzweigung. Eine Luftbrücke
ins Unberührbare, die Dinge
aus ihrer Unterbrechung entlässt, bis hinunter
zum Bootsverleih, wo das Sprechen weitergeht, und du
fragst dich erneut,
welcher Art sind die zwanzig Brücken, die entstehen,
wenn zwanzig Männer
eine Brücke betreten. Vor Pollenflug warnt man jetzt
stündlich, es weitet sich aus die Allianz
aus Allergie und Bezeichnung. Natürlich, das Wetter
ändert sich, täglich neue Flächen
aus Licht, Projektion und Gespräch. Mit dem Häher
zum Beispiel, der fliegt
jenseits der Vergleiche, schreddert die Luft.
Aus dem Sammelband:
Mikadogeäst (2015)
Zuerst erschienen in:
Haut und Serpentine (2004)
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