Weltbetrachter
Von der Selbstreferenz der Poesie
Róža Domašcyna, Axel Helbig
Dichter sind angefüllt mit Hoffnung und Zweifel. Sie sind voller Neugier auf Welt und brüten neue Welten aus. Dichter sind Weltenträumer und Weltbetrachter – beides gleichzeitig und beides präzise, wie man bei Carl-Christian Elze nachlesen kann: »im ersten milliardstel eines milliardstels eines milliardstels einer milliardstel sekunde blähte sich unser universum um das zehn-billionen-billionen-fache auf.«
Einige Gedichte dieser Sammlung treiben ihr Spiel mit dem Leser, fordern ihn auf, mitzuspielen. Andere erzählen eine Geschichte, wieder andere fokussieren auf einen Augenblick. Einige breiten sich aus, andere ziehen sich zusammen, leben gar von dem, was zwischen den Versen steht. Manche geben sich traditionell, erneuern die tradierten Formen, andere sind sprachschöpferisch innovativ, auf dem Weg zu neuen Formen. Viele der Gedichte sind auf Schönheit aus, einige wollen schockieren. Allen gemeinsam ist die Suche nach einem Rhythmus, der die Metaphern und Bilder tragen kann. Einige Gedichte suchen Verbindung zum Nachbarn, andere grenzen sich ab. Manche Gedichte sind am Leser interessiert, andere ignorieren ihn. Letzteren reicht es, wenn der Leser das Terrarium, in welchem sie sich strecken, staunend umschreitet. »Die Gedichte geben sich eher seismographisch als prophetisch.« (Diesen Satz von Walter Höllerer kleben wir an dieser Stelle ein, weil er zutreffend ist.)
Bei solcher Sachlage taten sich die Herausgeber schwer, alphabetisch oder chronologisch vorzugehen. Wie die Figuren eines Romans diesen mitschreiben, schrieben sich die Gedichte dieses Buches selbst in die Anthologie ein, suchten und behaupteten darin ihren Platz. Die Herausgeber vertrauten auf diese Selbstreferenz der Poesie. Aus 1.500 eingesandten Gedichten hat sich so ein Spiegel der Zeit geformt.
Anne Dorn (1925–2017) und Wulf Kirsten (*1934) haben wir als Paten dieser Anthologie gewählt.
Anne Dorn eröffnet die Anthologie mit einer intimen Ansprache an den Leser, die wohl von vielen der Autorinnen und Autoren dieser Sammlung unterschrieben werden könnte: »Ich muß Euch zurückgeben, was Euch gehört, und was ich im Laufe der Zeit gefunden habe, mit nachhause genommen, gepflanzt, begossen, vor den Läusen bewahrt und zur Blüte gebracht: Eine in Euren Dingen enthaltene Nachricht ... Unter die Tür schiebe ich Euch ein Flugblatt von Eurer endlosen, mühseligen, wieder und wieder vertagten Wandelbarkeit und Verwandlung.«
Wulf Kirstens Gedicht weltbetrachter (das dieser Sammlung den Namen leiht) zieht achtzig Jahre Leben auf einer Seite zusammen. Der »oft genug verlachte weltbetrachter ... (weiß) von verflossenen jahrhunderten zu berichten ... zeitzeuge wider willen.« Im Gedicht geisterfahrerstunde resümiert er einen »esprit de siècle mit zunehmender geistes- / verwilderung« ... »wie nur beschreib ich mein leben / und das so vieler andrer, die / neben mir schürgten und würgten«, fragt Kirsten im Gedicht fabula rasa.
Die Anthologie schließt mit einem Epitaph, das Anne Dorn sich selbst geschrieben hat:
»... du schöne, wilde Welt – mein Herz schließt zu!
Es schuf dich täglich neu und litt an dir,
gab diesem Traum aus Dingen Hand und Fuß ...«