Stimmen
»Anne Seidel schreibt in
Chlebnikov weint die Tradition der russischen Moderne fort. Eisenbahnfahrten durch Sibirien, eine Menge Schnee voller Spuren, die sich wieder auf lösen, aber auch die Sowjethistorie samt ihrer Deportationen und Straf lager bildet die motivische Struktur. Mit einem atmosphärischen, oft klassisch anmutenden Vokabular entsteht in diesen Gedichten ein Bewusstseinsraum, der die logische Struktur der Sprache außer Kraft setzt und stattdessen Brüche, Verkantungen, Öffnungen erzeugt – immer auf der Suche nach einer grundlegenden Stille, von der sich die Wahrnehmungen flüchtig abheben.
›denn nichts / zu verstehen, ist die einzige moeglichkeit, etwas zu verstehen‹, heißt es im Eröffnungsgedicht dieses intensiven, hochenergetischen Debütbandes, nach dessen Lektüre man wesentlich besser versteht, was Verstehen sein könnte.«
Lyrikempfehlung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, des Lyrik Kabinetts u. d. Literaturwerkstatt Berlin
»Anne Seidel (*1988 Dresden) schreibt in
Chlebnikov weint (poetenladen 2015), ausgewählt von Jan Kuhlbrodt, über die Rückseite und die Blaupause des Regens. Es sind Texte mit ›sachtgrauen refugien‹, in denen das Licht verstaubt und das Schweigen eskaliert. In ihnen ist eine ambivalente Sehnsucht nach dem Osten, nach den ›beiden wangen der neva‹ und nach Sankt Petersburg mit den ›schlafenden lippen‹.«
Beste Lyrikdebüts (Literaturwerkstatt)
»Aber auch in den Texten, die sich einem nicht so leicht erschließen, spürt man ihren Klang und die Ernsthaftigkeit der jungen Autorin. Eine Ernsthaftigkeit, durch die es ihr gelingt, Erinnern und Erinnerungen (an die Geschichte, an tote Dichter, an alltägliche Dinge) mit der dafür passenden poetischen Sprache zu beschreiben.«
Fixpoetry
»Anne Seidels (geb. 1988 in Dresden) erster Gedichtband Chlebnikov weint (2015) ist mehr als ein Tagebuch von realen oder imaginierten Reisen durch die russischen bzw. slawischen (Kultur)Landschaften. Er lässt Bilder aus der Gegenwart des postsowjetischen Europas und aus der stalinistischen bzw. nazistischen Vergangenheit aufeinanderprallen, und zwar mittels figurativer Konstellationen, die mit Benjamins
dialektischen Bildern vergleichbar sind. ?Der Band wird durch das Prinzip der Differenz und der Wiederholung, des Zyklus und der Variation, der An- und Abwesenheit strukturiert, deren Dialektik das hervorbringt, was A. Seidel mit Mandelstam den
Augenblick des (Wieder)Erkennens nennt. Deshalb wird das Gedicht als
Form der Abwesenheit definiert. A. Seidel distanziert sich somit von solchen Erinnerungsprojekten, die dazu tendieren, das heraufbeschworene Objekt durch die Last des Denkmals zu erdrücken.?«
Laurent Cassagnau: kostbar ist uns nur der augenblick des erkennens. Eine Einführung in Anne Seidels Chlebnikov weint (2015)