Das Gedächtnis der Sprache ist zäh
Um Barbier zu werden, muß einer den Pinsel nicht neu erfinden. Wer diesen Satz beherzigt, dem geraten die »66 Fallstudien« gewiß nicht zu Fallstricken. Geschichten über Handwerker und andere, dem Vergessenwerden entrissene Berufsstände gibt es bereits. Hier sei nur auf Gesualdo Bufalino (»Museum der Schatten«) und auf H.C. Artmann (»Fleiß und Industrie«) verwiesen. Ihnen verdanken wir unter anderem Kurioses und Wissenswertes zum Serenadensänger und Kichererbsenverkäufer (Bufalino) oder zum Landlord und Kaminfeger (Artmann).
In »Heikles Handwerk« werden die ehrbaren Stände aufs Glatteis des Gedichts geführt, hier wissen sie mit ihrer Kunstfertigkeit oft nicht wohin und kommen aus dem Schlittern nicht mehr heraus. Anspruch auf Vollständigkeit war von vornherein nicht angestrebt, ebensowenig ein neues »Lexikon verschwundener Arbeit«. Wohl hätte ich dem Philanthropen – als Ausnahme inmitten der erlernbaren Berufe – noch den Privatier zur Seite stellen können, dem Drahtzieher den Dengler oder dem Milchmann den Mundschenk. Doch die magische Zahl 66 wollte ich nicht überschreiten, und so blieben einige Skizzen unausgeführt, ohne daß es der Sache Abbruch getan hätte.
Das Gedächtnis der Sprache ist zäh, langlebiger als die von ihr bezeichnete Realität. Für viele erworbene Fähigkeiten hatte schon das Industriezeitalter keine Verwendung mehr. Inzwischen ist es selbst schon wieder Geschichte. Auf Jahrmärkten, unter Gauklern und Handleserinnen, dürfen die einst stolzen Zünfte sich noch der Schaulust und Gaffgier des Publikums erfreuen, als Steuerzahler fallen sie aber kaum ins Gewicht, und mit dem Stolz ist es so eine Sache – sobald ihm die Daseinsberechtigung entzogen wird, verwandelt er sich in Kauzigkeit. Da mag einer noch so fingerfertig oder luchsäugig sein, wenn seinem Produkt die Nachfrage, seiner Wachsamkeit das Objekt fehlt, macht er sich nur lächerlich.
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EIN ABDECKER mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche
muß das Alphabet nicht erst neu erfinden
um seiner Angebeteten zu imponieren.
Er läßt ihr was übrig von seiner Pferdewurst
und balanciert einen Würfel auf seiner Nase.
Das muß genügen für eine schnelle Nummer
in einer Telefonzelle mit herausgerissenem Hörer.
Einem Ungeduldigen, der an die Scheibe klopft
zeigt er das lose Kabelende und bleckt sein Gebiß
das tadellos sitzt, keine Frage.
Nun werden die Tage schon merklich kürzer.
Das Hoch Olga wird vom Tief Ottokar abgelöst.
Da ist es ungemütlich in einer Kleinstadt
die von der Kadaververwertung leben muß.
Aus: Heikles Handwerk. poetenladen 2010
Stimmen zum Buch
Sphäre der Überraschungen
Thomas Böhme interessiert sich weniger für die Jobs als für diejenigen, die sie ausüben. Das „Menschliche, Allzumenschliche“ im Nietzscheschen Sinne beschäftigt ihn. Daher wirken seine Porträts eher wie Charakterstudien, die trotz ihrer gedämpften Melancholie nicht selten durch einen verschmitzten Unterton bestechen ...
Hundertfach wähnt man sich zu Gast in Absurdisten, in einer verwunschenen Sphäre der Überraschungen und unerwarteten Wandlungen.
LVZ | Ulf Heise
Von der Schönheit des Verschwindens
In jedem der Vierzehnzeiler erlebt der Leser einen neuen Böhme'schen Tonfall. Das Glückauf der Gedichte dort, die Düsternis hier: die beiden Bücher zeigen Thomas Böhme, der sich früh als bedeutender Poet und Erzähler erwies, auf der Höhe seines Könnens. Die verschmitzte Skurri–lität des Heiklen Handwerks, die dichte Melancholie des Schnakenhaschers – sie suchen zur Zeit nach ihres gleichen in der gegenwärtigen Literatur.
Mitteldeutsche Zeitung | 15.10.2010
Ein Böhme voller Sinnenlust: Heikles Handwerk
Und selbst das, was in seinem mehr als hintersinnigen Band Heikles Handwerk wie ein Spiel ausschaut, ist bestes Handwerk – in diesem Fall sogar im doppelten Sinne. Nicht nur der 65 – plus einen – alten, fast vergessenen Berufe wegen, die er zum Aufhänger wählt: vom Abdecker bis zum Zuckerbäcker. Es ist kein neues Lexikon der verschwundenen Berufe, beschwört der 55-Jährige im Nachwort, das zumindest all jene lesen sollten, die das Hinterlistige in den 66 Texten nicht mitbekommen haben.
Bei Böhme verbindet sich das mit Lust an einer sinnlichen Sprache und genau komponierten Bildern. Manches Gedicht fast ein Schwank, fast eine Novelle, fast eine Kurzgeschichte. Ein markantes Buch im Programm des Poetenladens.
Lizzy | Ralf Julke
Johanna Hemkentokrax: Ihr neuer Gedichtband wird 2010 im Poetenladen erscheinen. Können Sie sagen, was Ihre Leser erwartet?
Thomas Böhme: »Heikles Handwerk« ist ein Zyklus von sechsundsechzig vierzehnzeiligen Gedichten, die jeweils mit dem Namen eines Berufsstands beginnen: von »Ein Abdecker« bis »Ein Zuckerbäcker«. Es ging mir darum, die Vertreter verschwundener oder stark zurückgedrängter Arbeit in lustvoller und manchmal bizarrer Weise auferstehen zu lassen, wobei jedes einzelne Gedicht einen Miniaturkosmos an Beziehungsgeflechten oder eben Beziehungslosigkeit eröffnet. Diese Gedichte sind überraschend anders als alles, was ich zuvor geschrieben habe. Da ich sonst eher zur Melancholie neige, war das ein ganz besonderes Vergnügen, einmal ungehemmt meiner auch vorhandenen Neigung zum Absurden und zum Spielerischen zu frönen.
Leipziger Blätter, 2010
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Thomas Böhme ist ein alter Hase und als solcher ein Meister seines Fachs, geradezu ein sprichwörtlicher Routinier. Sein hier zum Buch des Monats gewählter Gedichtband »Heikles Handwerk« mit seinen »66 Fallstudien« zu verschwindenden Berufen darf als ein kleines Meisterwerk bezeichnet werden. In viele Richtungen regen diese relativ formstrengen Gedichte das Denken an. Der goldene Boden, den das Handwerk sprichwörtlich immer hatte, scheint jedenfalls hinüber. Die Industrie produziert eben billiger.
Buch des Monats im Stadtmagazin Kreuzer
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